SP des Kantons Bern: Klassenkampf(rhetorik) und Reformpolitik

Titel
Klassenkampf(rhetorik) und Reformpolitik. 100 Jahre SP des Kantons Bern


Herausgeber
Sozialdemokratische Partei des Kantons Bern
Erschienen
Bern 2005: Sozialdemokratische Partei des Kantons Bern
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
ISBN
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Emil Erne

Die Parteien in der Schweiz befi nden sich im Umbruch. Jahrzehntelang prägende Kräfteverhältnisse gelten nicht mehr, ideologische Grenzen haben sich verschoben. Zur Standortbestimmung in dieser Situation ist der Rückblick auf die eigene Entwicklung und den zurückgelegten Weg ein erprobtes Mittel. So haben sich ältere und jüngere Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei sowie einige Parteilose zusammengefunden, um 100 Jahre nach Inkrafttreten der neuen Statuten des «Kantonalverbandes Bernischer Grütli- und Arbeitervereine» ein Stück bernischer Parteigeschichte aufzuarbeiten.

Eingangs fasst Robert Aemmer die lange Vorgeschichte und die schwierigen ersten Jahre der Kantonalpartei zusammen, die 1905 aus einer lebhaften, vielfach gespaltenen Arbeiterbewegung hervorging und dank rascher Zunahme der Mitgliederzahl bis 1914 zu einer politischen Kraft vorwiegend in den Städten, teilweise aber auch in ländlichen Gebieten heranwuchs. Die Integration ins politische System ging dabei einher mit einer schillernden gegenseitigen Abgrenzung von SP und bürgerlichen Parteien, wie Daniel V. Moser zeigt. Das politische Ringen bewegte sich zwischen Klassenkampf und ideologischen Gegensätzen in Sachfragen auf der einen Seite und taktischem Zusammengehen beim Kampf um die Regierungsverantwortung und gegen Machtblöcke auf der anderen Seite. In der Krise des Landesstreiks 1918 verschärfte die neue Bauern- und Bürgerpartei die gegnerische Front, die bisher Freisinn und Konservative gebildet hatten.

Eine lokal- sowie eine regionalhistorische Studie zeigen beispielhaft die Parteientwicklung auf der unteren Ebene: Margrit Genna-Stalder schildert ohne direkten Zusammenhang mit der kantonalen Thematik die Anfänge der Sozialdemokratie in Thun, die von den Arbeitern in den dortigen eidgenössischen Militärbetrieben getragen wurde; François Kohler stellt den Parti socialiste jurassien von der Gründung 1919 bis zur Aufl ösung 1975 dar. Diese Gruppierung hatte als politischer Sprecher der frankophonen Arbeiterbewegung zunächst einen Sonderstatus in der SP des Kantons Bern inne, spaltete sich dann in der Jurafrage und löste sich mit der Gründung des Kantons Jura auf.

Adrian Zimmermann erhellt die Anfänge der sozialdemokratischen Regierungsbeteiligung im Kanton Bern. Aufgrund der Veränderungen im politisch bestimmenden Kräfteverhältnis zwischen Bauern- und Arbeiterschaft und dank dem «Berner Weg» – einem klaren Linkskurs bei gleichzeitiger Verständigung mit den bürgerlichen Parteien, soweit es die schwierigen Zeitumstände erforderten – gewann die SP 1938 zwei und 1946 einen dritten Sitz. Der erste sozialdemokratische Berner Regierungsrat war Robert Grimm; seinen politischen Werdegang zum wohl bedeutendsten Schweizer Politiker des 20. Jahrhunderts rekapituliert Bernard Degen, wobei der Schwerpunkt auf dem Berner Wirkungsfeld liegt. Liselotte Lüscher widmet einer der wichtigsten linken Frauenpolitikerinnen ein persönliches Porträt: Marie Boehlen, die Frauenrechtlerin, Jugendanwältin und Parlamentarierin der ersten Stunde, die auch innerhalb der eigenen Partei vielfach zunächst gegen die Vorherrschaft der Männer ankämpfen musste. Auf ihrer Vorarbeit konnte dann die jüngere Frauenbewegung aufbauen. Nicole Gysin beschreibt im gerafften Überblick die Aktivitäten der Berner SP-Frauen vom Kampf ums Stimmrecht über das Streben nach angemessener Vertretung in den politischen Gremien bis zur Forderung nach einer Geschlechterpolitik als Querschnittsaufgabe in allen Bereichen.

Weitere Beiträge vergleichen die Grossratsfraktionen von 1905 und von heute (Andreas Rickenbacher), befassen sich mit der Haltung der Partei zur neoliberalen Finanz- und Steuerpolitik der Kantonsbehörden seit 1990 (Margrit Kiener Nellen, Andrea Bauer) sowie ihrem Gesinnungswandel von der kritiklosen Zustimmung zur grundsätzlichen Ablehnung gegenüber der Atomenergie (Leyla Gül). Dieser fundamentale Positionswechsel ist neben dem Wertewandel auch auf innerparteiliche Veränderungen zurückzuführen. Hierzu orten Urs Meuli und Andreas Ladner an der Basis der Partei einen ideologischen Graben und Erosionstendenzen. Die Kluft zwischen Kantonalpartei und Lokalsektionen in grossen Gemeinden und Städten auf der linken sowie den Lokalsektionen in mittleren und kleinen Gemeinden auf der rechten Seite des SP-Spektrums ist in der Berner Partei im Gegensatz zur schweizerischen SP zu Beginn des 21. Jahrhunderts grösser geworden.

Der Ausblick auf Gegenwartsprobleme und Strategien für die Zukunft von Rudolf H. Strahm beschliesst die erwähnten Textbeiträge. Im Anhang folgen eine Kurzchronologie (Andrea Schwab), die wichtigsten Daten zu den Berner SP-Zeitungen (Hans Kaspar Schiesser, Michael Kaufmann) und mehrere statistische Zusammenstellungen zu den Wahlen im Kanton Bern seit dem Ersten Weltkrieg (Yvan Rielle).

Insgesamt ergeben die Artikel, die in deutscher Sprache geschrieben und mit einer französischsprachigen Zusammenfassung versehen sind (mit einer Ausnahme, wo es umgekehrt ist), ein breit gefächertes Bild der politischen Linken im Kanton Bern. Die Ergebnisse beruhen teils auf den wenigen älteren Standardwerken, teils auf neuen Quellenstudien, deren weitere Vertiefung zu erwarten ist, wie etwa im Falle der Biografie zu Marie Boehlen. In der Einleitung konstatiert Anna Bähler einen grossen Forschungsbedarf und listet eine Reihe noch offener Fragestellungen auf. In diesem Sinne ist die vorliegende Festschrift als Zwischenhalt und Ansporn zu verstehen. Die schlichte, aber ansprechende Gestaltung des Bandes verdeutlicht den Charakter als nützliches Werkbuch der Parteigeschichtsschreibung.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Sozialdemokratische Partei des Kantons Bern (Hrsg.): Klassenkampf(rhetorik) und Reformpolitik. 100 Jahre SP des Kantons Bern, Bern, Sozialdemokratische Partei des Kantons Bern, 2005, 287 S., ill. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2005, S. 63f.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 67, Nr. 4, Bern 2005, S. 63f.

Weitere Informationen